Franzjörg Krieg als Fotograf

Franzjörg Krieg als Fotograf

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Türkische Kultur – Anatolisch-nomadische Tradition

Von Ende Juli 1989 bis Ende August 1990 (Schuljahr 1989/1990) konnte ich mir einen Traum erfüllen und ein Jahr reisen.
Die Touren während dieses Jahres begannen mit einem mehrwöchigen Aufenthalt in Ungarn beim Internationalen Kongress für Höhlenforschung während den bewegten Zeiten der Besetzung der Deutschen Botschaft durch DDR-Flüchtlinge.
Der Mercedes 508 mit langem Radstand und Hochdach, den ich extra für dieses Jahr selbst zum Expeditionsgefährt ausgebaut hatte, kam zum ersten Mal so richtig zum Einsatz.

Der heftige Wintereinbruch erleichterte die Entscheidung, die Wintermonate von Anfang Dezember 1989 bis Anfang März 1990 als Backpacker in Indonesien, Malaysia und Singapur zu verbringen.

 

Da während dieser Zeit die Mauer geöffnet wurde, folgte eine Tour durch die Ex-DDR, um Brieffreunde dort zu treffen.

 

Danach startete eine 5-monatige Tour mit dem Expeditionsgefährt in die Türkei bis zur syrischen Grenze.


Mit weiteren Freunden in Fethiye


Die Ambar-Wand in Taskale, Karaman


Im Bereich der Yayla Ogru, Taskale


Bei Susuz

Eigentlich wollte ich weiter nach Syrien und danach so weit, wie ich irgendwie kommen konnte. Doch die syrischen Grenzbehörden benahmen sich für mich so übergriffig, dass ich mich dazu entschloss, ein Land mit solcher behördlichen Struktur nicht als Reiseumfeld zu wählen.

Ich entschloss mich also, wieder zurück an die östliche Südküste der Türkei zu fahren, wo ich Hinweise auf Höhlen im Mitteltaurus hatte. Das Gebiet zwischen Silifke, Mersin, Eregli und Karaman wurde danach für gut drei Monate mein Zuhause.


In der Mitte unten an der Küste Silifke, in der Mitte rechts an der Küste Mersin, oben etwa in der Mitte Eregli und links Karaman. Diese Städte und die Verbindungsstraßen umrahmen das Großgebiet meines Interesses.


Die schnurgerade 40km lange Verbindungsstraße von Karaman nach Ayranci bildet den Nordrand meines Forschungsgebietes. Südlich davon liegen drei Flußtäler, die gesäumt sind von geschichtlichen und kulturellen Highlights. Zuerst war ich in Taskale, dem letzten und bedeutenden Ort im mittleren Tal. Danach wurde das Tal von Ayranci bis Berendi und die dazu gehörenden südlichen Bergregionen mein zweites Zuhause.

Eine speläologische Forschungstour nach Tansania und Sansibar brachte mir im Sommer 2000 den glücklichen Zufall, “mein” Forschungsgebiet überfliegen und aus 10.000 Metern Höhe fotographieren zu können.

Meine speläologischen Forschungserfolge dort waren so bedeutend, dass ich in den 25 Jahren danach 35 Mal in der Türkei war und meine Einsichten vertiefen konnte.


Gürlevik in Taskale – 2,5 km Flusshöhle entdeckt, erforscht und vermessen


Hisilayik kuyu – eine ergiebige Ressource, von der heute die gesamte Gegend ihr Trinkwasser bezieht – entdeckt, erforscht und vermessen. Die DSI (türk. Wasserwirtschaftsamt) erschloss den Höhlenfluss durch einen 1,3 km langen Tunnelvortrieb ab 1995. Im Jahr 2000 floss das Wasser zum ersten Mal aus der Höhle.

Mein Interesse galt von Anfang an den Wurzeln der türkischen Kultur, die ich gerade dort sehr anschaulich geboten bekam. Immerhin war (und ist wohl auch heute noch) das Berggebiet in diesem geographischen Gebiet das größte Sommernomadengebiet der gesamten Türkei ohne Durchgangsstraße.

Die türkische Kultur startet in ihren tiefgreifenden und bis heute wirksamen Grundzügen am Ende der Eiszeit vor 10.000 – 15.000 Jahren (abhängig vom Breitengrad). Dass im fruchtbaren Halbmond schon vor 12.000 Jahren eine Hochkultur am Blühen war, haben die Ausgrabungen des Deutschen Archäologischen Instituts unter der Leitung von Klaus Schmidt (1953 – 2014) in Göbekli Tepe eindrucksvoll erwiesen.

Die neolithische Revolution – der Wandel vom Jäger und Sammler zum sesshaften Bauern – wird auch assoziiert mit den Konsequenzen der Versorgung einer großen Gruppe von Künstlern und Handwerkern, die zum Bau einer solchen Anlage wie Göbekli Tepe notwendig war. Damit ist durchaus möglich, dass der Bau von religiösen Zentren nicht eine Folge der Dorfbildung war, sondern umgekehrt.

 

Die besonderen Bedürfnisse der Versorgung von Ziegen- und Schafherden als Grundlage für Nahrungs- und Rohstoffgewinnung unter den klimatischen Bedingungen in der Türkei machten die ganzjährige Versorgung der Herden abhängig vom Sommernomadentum. In den Sommermonaten von Juni bis September, wenn in den niederen Lagen jedes Grün in der Landschaft einem Ocker-Ton weicht, müssen die Herden in die Berglagen der Sommernomaden in eine Höhe zwischen 2000m und 2700m geführt werden, wo an jeder Stelle, an der eine Quelle zutage tritt, saftiges Grün zur Verfügung steht. Sowohl die Höhenlage als auch der Zeitraum werden bestimmt durch Schneemelze und Neuschnee als auch von der Temperatur. Die niedrigsten Nomadenlagen werden Ende Mai/Anfang Juni eingenommen – eine Zeit, in der der Frühling die Berglagen erblühen lässt. Schneefreiheit ist dabei klimatische Voraussetzung. Alle Tiere sind bei nächtlichen Frosttemperaturen kaum frei von Krankheiten zu halten.


Wiese bei Bergdorf


07.06.2012


Tulpen stammen aus dem vorderasiatischen Bergland

Ich erinnere mich an eine Silvesternacht Mitte der 90er Jahre in Antalya. Allein unterwegs hatte ich zwei deutsche Mädchen kennengelernt, die mich zur Silvesterfeier in ihr Hotel eingeladen hatten. Ein türkischer Alleinunterhalter mit keyboard und Gesang spielte zur Unterhaltung und zum Tanz auf. Kurz vor Mitternacht spielte er eine Melodie auf der Ney, einer asiatischen Flöte, und ließ sich von der Automatik des keyboards begleiten. Die Melodie transportierte die unendliche Weite der Berglandschaft und eine phantastische Atmosphäre. Zwei junge Frauen aus dem Publikum nahmen jeweils eine Kerze vom Tisch und setzten sich in traditioneller Haltung einander zugewandt mitten auf die Tanzfläche. Niemand hatte sie dazu aufgefordert.

Diese Szene war eine logische Konsequenz aus den tief eingebrannten 10.000 Jahre alten Strukturen im Unterbewussten. Selbst junge Türkinnen ohne Bezug zur Yayla (Alm) und zum Cadr (Nomandenzelt) sind unbewusst noch tief verwurzelt in den wesentlichen Abläufen, die das Nomadentum ausmachen. Die Weite der Bergwelt ist assoziiert mit dem Leben auf der Yayla und im Cadr. Das Sitzen auf dem Boden, dort, wo das Feuer ist, gehört zu den ursprünglichsten Erscheinungsformen nomadischen Lebens. Das Leben dieser Strukturen ist auch in der Realität von Stadtmenschen noch intuitiv angelegt.


Steinhaus auf der Yayla Gerdek kilise (Catköy) beim Bolkar 2001

Die Folgen dieser intuitiven Prägung sind aber von den meisten Türken nicht realisierbar. Die Sitte mit gebotshafter Stringenz, vor dem Betreten des Hauses oder der Wohnung die Schuhe auszuziehen, werden von Menschen türkischer Nationalität entweder als islamisches Gebot oder als Notwendigkeit aus Gründen der Sauberkeit erklärt. Tatsächlich hat es zwar mit Sauberkeit zu tun – aber in einer bedeutend existenzielleren Notwendigkeit als aus heutiger Erfahrung angenommen.

Der Schritt auf der Yayla ins Cadr ist nicht nur ein Schritt in die Einraumwohnung, die Küche, Wohn-, Ess- und Schlafraum in einem bedeutet, sondern – weil es im Cadr keine Möbel gibt – ein Schritt auf den Esstisch oder ins Bett. Von draußen kommend, umgeben von Hunderten von Schafen oder Ziegen, mit deren Exkrementen an den Schuhen, ist es aus hygienischen Gründen existenziell wichtig, zumindest diese Schuhe auszuziehen. Um diese Notwendigkeit zu verstärken, gehört zu der Inbesitznahme der Yayla nach dem Göcmek, der nomadischen Form des Almauftriebs, das Weißeln des Zelteingangs und des Küchenbereiches mit Kalkfarbe. Niemand wird mit zugekoteten Schuhen diese “Hemmschwelle” betreten.


Yayla am 15.08.2006

Damit wird auch deutlich, dass die rituellen Waschungen im Islam vor jedem Gebet nichts weiter sind als die Übernahme dieser existenziell wichtigen Verhaltensvorschrift aus 10.000 Jahren nomadischer Erfahrung durch eine Religion, die erst 1500 Jahre alt ist.

Warum gibt es keine Möbel im Nomadenzelt? Ganz einfach: Weil ein Kamel neben allem, was es zu tragen hat, nicht auch noch Möbel transportieren kann.

Das Kamel ist der traditionelle Lkw der Berge. Bevor dessen Aufgabe Traktoren und Lkws übernahmen, war das Kamel das Tier, mit dem die Hauptlast des Gütertransports rund ums Nomandentum geleistet wurde. Auf der Südseite des Taurus, zwischen dem Meer und den  Berglagen, war das Halten von Kamelen weniger problematisch. Deshalb kann man sie auch heute noch als käppitragende Touristenkamele in den Badeorten an der türkischen Riviera antreffen. In den Nordlagen der Berge, wo die anatolische Hochebene das Leben erst bei 1000m Seehöhe beginnen lässt, war es schon bedeutend schwieriger, ein Kamel auch über den Winter zu bringen.


Yürik mit Kamelen in Ogru (Taskale) 1990


Wohl eines der letzten Kamele 1990 auf der Nordseite der Bolkar-Berge


Der letzte hohe Kamelstall am 20.08.2006 in Taskale (schon lange ohne Tiere)

Hinzu kommt, dass Kamelfleisch im Islam gegessen werden darf, ein Kamel also nach Kilo Schlachtpreis bezahlt werden muss. Esel und Pferde dürfen dagegen nicht gegessen werden und sind entsprechend billig zu haben. Da z.B. kranke Pferde einfach für die Wölfe auf den Bergen zurückgelassen werden, gibt es heute im Taurus wilde Pferdeherden.


Wildpferde am Keban kaya 2000


Wildpferde im Bolkargebirge am 14.08.2013

Und noch was: Das Kamel transportiert Güter bei der Wanderung aus dem Tal auf die Yayla und umgekehrt und dazwischen vielleicht den Käse zur Einlagerung im Käseschacht. Ansonsten steht es nur unnütz rum und frisst für viele Schafe. Man kann sich davon also nicht mehr als eines leisten.

Entsprechend muss der Transport aller Güter zur Yayla so rudimentär wie nur möglich gehalten werden. Möbel wären dabei unnützer Luxus.


Göcmek vom Dorf Kesir vor Berendi auf die Yayla – schon lange ohne Kamel

Das Essen auf dem Boden ist also eine typische Äußerungsform anatolisch-nomadischer Tradition.

In einem Bergdorf freundete ich mich mit einem Lehrer an. Natürlich war ich bei ihm zuhause und wir haben auf dem Boden gegessen. Als seine Töchter so alt waren, dass sie die Hochschule besuchten, zog die Lehrerfamilie in die Stadt. In der Stadtwohnung gab es natürlich die Trennung von Küche, Wohn- und Schlafzimmer. In einem Esszimmer stand sogar außer dem Sofa ein Esstisch mit Stühlen. Das bedeutete aber nicht, dass wir am Tisch gegessen haben. Natürlich wurde korrekterweise auf dem Boden gegessen – zwischen Sofa und Esstisch.


Essen bei Freunden in Catköy 2010

Das traditionelle Nomadenzelt besteht aus Holzstangen und einer schweren, dunkelbraunen Zelthaut aus Ziegenfilz. Diese ist luftdurchlässig. Im Vergleich zu einer Plastikfolie ist sie teuer in Produktion und Anschaffung und viel zu schwer für den Transport. Kein Wunder verschwanden die typischen traditionellen Zelte in den letzten Jahren fast völlig.


Zelte in Almacenenyurdu 1999


Traditionelle Nomadenzelte nördlich des Bolkar 2002

Jedes Zelt hat meist eine Grundmauer, die den Grundriss des Zeltes bildet und in den der Eingang und die Kochstelle mit eingearbeitet ist. Darüber wird das Zelt erbaut. Yayla und Wohnplätze sind in Familienbesitz.

Große Yaylas bestehen auch aus festen Häusern in Trockenbauweise aus lokal anliegendem Gestein mit Flachdächern, deren statische Kernstruktur aus Wachholderbaumstämmen gebildet ist.


Gerdek kilise Yayla am 12.08.2004 morgens – der Bolkar in Wolken


Typische Decke eines Flachdaches in den Bergen – 17.05.2008

Äste und Steine füllen aus und Grund dichtet nach oben ab. Die Flachdächer sind so stabil, dass eine (männliche) Hochzeitsgesellschaft darauf auch mit Musik, Tanz, Essen und Trinken feiern kann.


Aufnahme 1990 vom Hausdach am Hang darüber


Typisches Gehöft mit Flachdach (Steinwalze an der rechten hinteren Ecke)

Außerdem ist das Flachdach auch Arbeits- und Trocknungsfläche.

Regen oder Schnee weicht das Dach aber durch, weshalb Schnee immer wieder beseitigt werden muss. Außerdem gehört auf jedes traditionelle Flachdach eine Steinwalze, mit der die Struktur des Daches nach einer Aufweichung wieder verdichtet werden kann.

Die Häuser auf den Yaylas machen deutlich, dass das Steinhaus in der anatolisch-nomadischen Tradition nichts weiter ist als ein Nomadenzelt – aber eben aus Stein. Auch im Steinhaus gibt es nur einen Raum.

Das traditionelle Haus im Tal besitzt nicht die Raumaufteilung einer Stadtwohnung. Es ist eigentlich ein Cadr aus Stein oder Kerpec (Lehmziegel, aus Lehm und Stroh geformt und in der Sonne getrocknet). Der Küchenbereich ist zwar in einem extra Raum untergebracht, aber der Rest des Wohnens spielt sich in einem Raum ab: Gäste empfangen, Essen und Schlafen. Grundausstattung sind – wie im Cadr – Teppiche und Sitzkissen, im Haus kommen noch 1 bis 2 Sofas hinzu. Und ein Holzofen für die kalten Wintermonate. In der Wand befindet sich unter einem Vorhang eine große Nische. In ihr lagern die Matten, Kissen und Decken, die nachts zum Schlafen ausgelegt werden.


Essen bei Freunden in Taskale 1990


Abendessen bei Freunden am 10.08.2004 in Ayranci

Bei einer größeren Gesellschaft essen Männer und Frauen mit Kindern getrennt.


Frauen mit Kindern beim Essen im Haus von Hasan H. Peker in Karaman am 30.08.2009

Es muss nicht verwundern, wenn Türken es lieben, im Freien am Wasser zu picknicken. Damit wird die Situation auf der Yayla reproduziert.


Landarbeiter am 28.05.2007 während der Arbeitspause in Bugdayli


Eine typische Männergesellschaft beim Picknick an einer Quelle mit Lamm, Musik und Raki. Während das erste Lamm gegessen wird, wird das zweite schon geschlachtet.